Datum: 17.11.2000
Ressort: Rezension
Autor: Andreas Becker
Die Rehabilitation des Drastischen
Das Amateurensemble der JugendTheaterWerkstatt Spandau führt “Clämoarr” von David Spencer auf und lernt, wie man den wohl verdienten Beifall aushält beziehungsweise wie man am elegantesten von einer Bühne kommt
“Und was machen wir, wenn die immer weiter klatschen?” Das Amateurensemble der JugendTheaterWerkstatt Spandau übt gerade, wie man am elegantesten von einer Bühne kommt. “Der Mittlere drückt dem Nächsten die Hand, der dem Nächsten – dann verbeugen sich alle” lautet die Regieanweisung von Serdal Karaca. Na, das klappt doch schon ganz gut. Gar nicht zufrieden ist der Kurde mit den Gedächtnislücken seiner Jungschauspieler. Für sein Gefühl hat die Truppe bei der Generalprobe des Stücks “Clämoarr” ein wenig zu viel improvisiert. Er schwört alle darauf ein, am nächsten Tag vor der Premiere drei Stunden früher im Jugendhaus Spandau zum letzten “Training” aufzulaufen. Derweil hüpfen quietschebunte, russische Mädchen zum Aerobic durchs Foyer, vorbei an den Jungs beim Billard.
Nach den Boxing-Nights im Frühjahr ist “Clämoarr” die zweite Produktion der Spandauer in diesem Jahr. Das Stück von David Spencer, der an der Hochschule der Künste HdK szenisches Schreiben unterrichtet, ist kein eben leichter Brocken. Wort- und auch sonst gewaltig versucht Spencer einen weiten Bogen von der Spandauer Parkbank mit Graffiti bis zum Bürgerkrieg in Bosnien und anderswo. Sogar die Uno bekommt ihr Fett weg. Die Uraufführung zerfällt in zwei disparate Teile. Im ersten baden wir (die Zuschauer sitzen mitten im Raum auf Parkbänken) im mitreißenden Redefluss aus Szenejargon und Fick-Dich-Attitüde. Die Multikulti-Jugendgang vertreibt sich die Ödnis in Clämoarr (Geschrei) mit einem recht authentischen Mischmasch aus Zärtlichkeit, Brutalität und Pubertät. Mit geballter Energie werfen sie sich gegenseitig in den Dreck, wälzen sich im Rindenmulch – Gärtnerlatein für zerhäckselte Baumreste, die den Boden des Jugendhauses an eine Zirkusarena erinnern lassen. Die Kids klauen einen Laptop und diskutieren beim Joint, ob man von Speed Dünnschiss bekommt. Der Feind trägt Hundeleine. Sein Schäferhund heißt Satan.
An ihre Grenzen geraten die talentierten Nachwuchsakteure beim zweiten “Clämoarr”-Teil, der anspruchsvoll eine Analogie weltweiter Gewaltausbrüche junger Leute zu konstruieren sucht. Der Hundebesitzer, schon im ersten Teil erschlagen, muss noch einmal als Waffenhändler tot gemacht werden. Die Wiederholung ist hier nicht Farce, sondern blutrünstige, lustvolle Ausschweifung. Der Autor rehabilitiert das Drastische, als hätte er bei der “Tagesschau” jahrelang das Schlimmste rausgeschnitten. Die Zuschauer kommen sogar in den Genuss ihrer eigenen Scheinerschießung – unter Mithilfe der Uno-Friedenstruppen. Eine halbe Nummer kleiner hätte der Schuh in Spandau vielleicht doch besser gepasst.
Trotzdem sind 32.000 Mark Projektzuschuss vom Senat gut angelegt, die es vor allem deshalb gibt, weil hier so viele “Nationen” zusammenwirken. Draußen am Imbiss wird einem dann klar, was für ein Kontrastprogramm Theaterspielen in dieser öden Hochhausgegend ist. Die einen hängen rum und bauen Scheiße, die andern stellen dar, wie schlimm das enden kann. Wenn das kein Kulturfortschritt ist … Und bei reichlich Beifall lernt man auch noch perfekte Abgänge.